Wenn ich über den Friedhof laufe, erkenne ich inzwischen oftmals Grabstellen wieder. Markante Engelsfiguren oder die über das Gelände verstreuten Kapellen sind mir eine Orientierungshilfe. Trotzdem gibt es unzählige Ecken, die ich noch nie betreten habe. Eine davon liegt ganz am Rand, im Nordwesten. Man sieht hinter den Bäumen die S-Bahn vorbeifahren und hört schon den Lärm, der von der Fuhlsbüttler Straße herüberweht. Hier ist der Friedhof schon fast zu Ende. Meine Tour begann am Nordteich und dann folgte ich dem ausgeschilderten ‚Stillen Weg‘. Ich bin auf der Suche nach einer bestimmten Grabstelle, wo ein berühmter Hamburger Volksschauspieler beerdigt wurde. Hoffentlich finde ich ihn.
Aus Erfahrung wird man klug und deshalb habe ich inzwischen stets eine Karte bei mir, worauf ich die Stellen markiert habe, die ich finden möchte. Trotzdem verlaufe ich mich schnell. Entweder habe ich die falsche Wegabzweigung gewählt oder ich sehe etwas am Rande, dass mich verlockt näher heranzugehen und schon ist es passiert. Dann habe ich mal wieder die Orientierung verloren, denn die ist ohne Kompass kaum bestimmbar. Kein Pfad und keine Straße verläuft geradlinig, nirgends ergibt sich ein rechter Winkel. Stets bewegt man sich auf sanften Kurven, die man beim Laufen kaum bemerkt, die einen aber ganz wesentlich vom Kurs abbringen.
Auch diesmal folge ich nicht meiner Karte, sondern dem Weg zu einem Hügel, den ich vor mir entdeckt habe. Er wurde sicherlich künstlich angelegt und mit einer Treppe ausgestattet, die einen in wenigen Schritten auf die Spitze führt. Dort steht ein Gebäude oder ein Denkmal und das will ich mir näher ansehen. Oben angekommen, erkenne ich, dass es eine Grabstelle ist. Ein Relief zeigt den Verstorbenen, aber sein Gesicht ist mir leider unbekannt. Auch sein Name sagt mir zunächst nichts. Hier ruht Fritz Stavenhagen, ein Herr mit Hut und runder Brille. Nett sieht er aus, vielleicht ein Schriftsteller. Und damit liege ich richtig, denn Stavenhagen war Autor für plattdeutsche Bühnenstücke. Sein wichtigstes Werk war wohl das Stück ‚Mudder Mews‘, das so gar nicht zu den üblichen Lustspielen passt, die man im Ohnsorg Theater spielt. Trotzdem war es einer der großen Erfolge von Heidi Kabel. Im Begleitheft zum dramatischen Stück heißt es:
Ein Leben voll Arbeit und Sorge hat sie hart gemacht: Mudder Mews. Ihr Mann trank sich zu Tode, fünf ihrer acht Kinder sind früh gestorben. Den drei Lebenden gilt ihre ganze Liebe und Fürsorge. Doch leiden sie unter ihrer bitteren Egozentrik, bösen Kritik und nörgelnder Besserwisserei. Wer soviel durchgemacht hat wie Mudder Mews, der braucht Rücksicht auf andere nicht mehr zu üben. Am Ende der dramatischen Handlung ist sie schuldig, ohne ihre Schuld auch nur annähernd zu begreifen.
Dieses Stück hat Stavenhagen geschrieben, in plattdeutscher Sprache. Natürlich war er Hamburg, Sohn eines Kutschers, aber kein Autor. Er lernte Drogist und bildet sich später autodidaktisch weiter. Schließlich wird er Dramaturg am Berliner Schillertheater, stirbt aber schon ein Jahr später, im Alter von 30 Jahren.
Ich laufe die Stufen wieder runter und folge dem Fußweg rund um den Hügel. Hier sind etliche Grabplatten gelegt und schon bald werde ich fündig. Der Name, den ich suche, steht auf einer der Steine. Aber es ist nicht der Schauspieler, sondern sein Neffe, den die Hamburger als Ersten Bürgermeister kannten. Ich spreche von Henning Voscherau und war ganz erschrocken, dass er bereits tot ist. Das ist an mir vorbeigegangen, ich hatte ihn wohl viel jünger eingeschätzt als er tatsächlich war. Neben ihm eine fast identische Platte mit dem Namen: Walter Voscherau. Das ist er, den habe ich gesucht. Er war Schauspieler am Ohnsorg Theater und gehört zu den Lieblingen des Publikums. Noch vor Heidi Kabel und Henry Vahl feierte er seine großen Erfolge. Aber er trat unter einem verkürzten Namen auf, nämlich als Walter Scherau. Von den Hamburgern liebevoll als ‚der Dicke‘ bezeichnet, denn seine Leibesfülle war beeindruckend. Und doch konnte niemand so leicht und tänzelnd über die Bühne schweben, wie er es machte. Dabei stets ein breites Lachen im Gesicht und eine ohrenbetäubende Stimme, die voller Emotionen auch den größten Saal mühelos erfüllte.
Hinter mir, also gegenüber von der Familie Voscherau, steht der Grabstein von Dr. Richard Ohnsorg, dem Direktor des berühmten Theaters. Das passt ja prima und dazwischen findet man die Gräber von dem viel zu jung verstorbenen Wolfgang Borchert und Hermann Quistorf. Zu Borchert muss ich nichts sagen, denn jeder kennt sein Werk ‚Draußen vor der Tür‘ und Quistorf war ein Lehrer, der sich nebenberuflich als Schriftsteller und Übersetzer auslebte. Er schrieb in plattdeutscher Sprache und gehört deshalb in diesen Kreis von berühmten Theaterleuten, die das Volkstheater geliebt haben.
Und als ich meine Runde beendet hatte, fiel mir ein, dass ich das Ohnsorg Theater nach dem Umzug ins neue Gebäude noch nie besucht hatte. Ich habe es mir gleich auf meinen Wunschzettel geschrieben und werde es bald nachholen.