Es ist noch früh am Morgen, als ich durch den alten Teil des Ohlsdorfer Friedhofes streife. Dort, wo die hohen Tannen und knorrigen Kiefern stehen. Es ist ein wenig unheimlich, ziemlich dunkel, aber auch schön wie im richtigen Wald. Man vergisst, dass man auf einem Friedhof unterwegs ist. Dann aber sehe ich am Ende des Weges eine Lichtung. Dort scheint ein Rondeel angelegt worden zu sein, mit blühenden Büschen und viel freier Fläche. Ich bin neugierig, das möchte ich mir gerne ansehen. Wahrscheinlich ist es eines der anonymen Bestattungsfelder, die ganz unterschiedlich gestaltet sind. Kaum bin ich aus dem Waldweg heraus, da scheint es mir, als würde ich in eine andere Welt eintreten. Hier ist es sonnendurchflutet, ein intensiver Blütenduft liegt in der Luft und vor mir steht eine makellose, helle Frauenfigur. Sie dreht mir zwar den Rücken zu, aber ich fühle mich doch eingeladen, ihrem Blick zu folgen. Und was ich das sehe, macht mich neugierig.
Ich gehe um das Areal herum und finde einen der beiden Eingänge. Ein schmiedeeiserner Bogen bildet das Tor zu diesem Platz, der durch eine niedrige Hecke schützend eingezäunt ist. Am Eingang stehen Hinweistafeln, die mich aufklären, wo ich bin: Es ist der ‚Garten der Frauen‘. Ich lese weiter: „Ein Ort der Erinnerung mit historischen Grabsteinen von Gräbern bedeutender Frauen und eine letzte Ruhestätte für Frauen.“ Das gefällt mir, denn die Frauen kommen auf dem Friedhof eindeutig zu kurz. An öffentlichen Erinnerungsstätten werden sie gerne vergessen und auf Privatgräbern lese ich oft nur den Namen des Mannes mit dem Zusatz „… und Frau“. Hier habe ich also endlich einen Ort auf diesem weitläufigen Friedhof gefunden, der den Frauen gewidmet ist.
So früh morgens ist noch kein Mensch unterwegs und so kann ich diesen Friedhof ganz alleine erkunden. Das ist gut, denn schnell fühle ich mich regelrecht verzaubert. Ist es die Wirkung der herrlichen Blütenpracht oder sind es die vielen überraschenden Entdeckungen, die ich hier machen kann? Ziemlich als Erstes fällt mein Blick auf eine wellenförmige Grabsteinanlage. Darauf sind Namen zu lesen und ich begreife, dass das die Frauen sind, die hier in den letzten Jahren beigesetzt worden sind. Mir gefällt das so gut, dass ich bedaure nicht selbst etwas ‚Bedeutendes‘ geschaffen zu haben. Nein, auch wenn ich noch so sehr nachdenke, fällt mir kein Kriterium ein, dass mich berechtigen würde, hier eine Grabstelle zu bekommen. Schade, denke ich mir und irre mich gewaltig.
Jeder Grabstein wurde ganz individuell gestaltet und doch bilden alle zusammen eine harmonische Einheit. Auf Tafeln wird über das Leben der Frauen informiert und überall wurden Plätze geschaffen, an denen man Rast machen kann, um das Ganze auf sich wirken zu lassen. Ich sehe Grabsteine, die wie eine Spirale aufgestellt wurden und einen Pavillon, der Schrifttafeln aus dunkelblauen Glas als Wände hat. Wenn dort die Sonne durchscheint, stellt sich eine fast himmlische Stimmung ein. – Ein weiß blühender Busch ist die Quelle des intensiven Duftes. Ich glaube, man nennt die Pflanze Schneeball, aber ich bin mir nicht sicher.
Ich verlasse den Garten der Frauen durch ein anderes Tor, das dem Ersten gegenüberliegt. Daneben steht eine weitere Steinfigur. Erst kann ich nicht genau erkennen, was sie darstellt, aber als ich ein Stück weitergehe, erkenne ich es. Der Künstler oder vermutlich die Künstlerin hat einen Schwan dargestellt. Voller Trauer hat er den Kopf tief auf die Brust geneigt. Ein schönes Motiv und wer hört da nicht das Lied in sich klingen: „Wenn ein Schwanenkönig in Liebe stirbt …“
Zu Hause wartet dann noch eine dicke Überraschung auf mich. Ich hatte mir einen der Prospekte mitgenommen, die an den Eingängen zum ‚Garten der Frauen‘ bereitliegen. Und dort lese ich, dass diese Ruhestätte jeder Frau offen steht. Der Begriff ‚bedeutend‘ wird von dem Verein, der die Anlage geschaffen hat und am Leben erhält, weiter gefasst als allgemein üblich. Recht haben sie, denn keine Lebensbiografie ist unbedeutend. Ich werde sicher in absehbarer Zeit in diesen Garten zurückkehren, denn es gibt für mich hier noch viel zu entdecken. Wenn Sie neugierig geworden sind, dann finden Sie diesen Platz ganz in der Nähe, hinter dem alten Wasserturm an der Cordesallee. Vielleicht treffen wir uns dort? Das wäre schön, denn dann könnten wir uns auf eine der Bänke setzen und ein bisschen über Leben und Tod philosophieren.
Nachtrag: Inzwischen bin ich längst Mitglied des Vereins. Eines Tages wird man eine Urne in die Erde senken, auf der mein Name steht. Etliche Male habe ich den Garten inzwischen aufgesucht und jedes Mal denke ich, das war eine gute Entscheidung. Fast jedes Mal entdecke ich etwas Neues. Eines Tages hatte man ein Gartenhäuschen aufgebaut, nächstes Mal entdeckte ich eine neue Skulptur. Ein gepflegtes Plätzchen und mit viel Herz und Humor erschaffen. Ein Grab besuche ich immer, denn dort erwartet mich eine besonders neugierige Steinfigur. Sie stellt eine Ratte dar, aber eine besonders nette. Die Wahl fiel nicht zufällig auf das Tier. Im Grab wurde eine Frau bestattet, die sich mit den Tieren beruflich beschäftigt hatte. Eine Wissenschaftlerin mit dem Fachgebiet der Ratten oder Nager. Das lustige ist, dass die Steinratte von den echten gemocht wird. Regelmäßig knabbern sie die langen Haare ab, womit sie sich orientieren kann. Und das tolle ist, dass man es genauso regelmäßig ersetzt! Alle paar Monate wird ein neuer Schnurrbart bestellt. Das gefällt mir, dahinter steckt viel Leidenschaft.
Steine wurden zu einer Spirale aufgestellt. Sie erinnern an besondere Frauenschicksale. In einem Stein brennt ein kleines Feuer. Es soll an die Hexenverbrennungen erinnern, die auch in Hamburg stattfanden. Ein anderer Stein hat drei kreisrunde Löcher. Dort geht es um das Thema häusliche Gewalt. Man gedenkt einer Frau, die von ihrem Ehemann im Streit erschossen wurde. Gleich daneben wird einer Zauberkünstlerin gedacht und das auf wirklich originelle Weise. Mein Entsetzen, dass ich eben noch verspürte, weicht einem herzhaften Lachen, als ich dem Zaubertrick, der angeboten wird, ausprobiere. Auch ein Hamburger Original hat hier einen Gedenkstein bekommen. Es geht um die Zitronenjette, die sich mit dem Verkauf von Zitronen mühsam das Geld verdiente, um nicht selbst zu verhungern. Auch ihr hat man ein Denkmal gesetzt, das viel Humor beinhaltet. Mir gefällt diese Mischung sehr, sehr gut.