… bedeutet: die Haltung/Fassung bewahren. Das Wort wird im Englischen nicht benutzt, stattdessen könnte man vielleicht ‘composure‘ verwenden. Aber hören tun sie es gerne, wenn ich von ‘contenance’ spreche, denn eigentlich mögen die Engländer vieles aus dem Franzosen-Land. Offiziell wohnt dort der Erzfeind, die ‘frogs’, und doch wird es heimlich bewundert, und so fährt man nur allzu gerne nach Südfrankreich, um dort die Ferien zu verbringen. Dabei beherrschen gerade die Engländer die Übung der Contenance meisterlich. Es gibt einen sehr strikten Kodex, der besagt, was in der Öffentlichkeit erlaubt ist und was nicht geht. Und jede Art von Bloßstellung gehört ganz gewiss nicht dazu. Niemals darf man einen Anderen öffentlich angreifen. Das heißt im Klartext, dass man sich große Mühe gibt, niemals Ärger zu verursachen. Kommt es doch einmal vor, dann wird schweigend darüber hinweggesehen.
Konkret darf man sich das so vorstellen. Da steht man im Supermarkt an der Kasse an und es drängelt sich jemand mehr oder weniger geschickt vor. Was machen Sie dann? Ich spreche den/die Betreffende ziemlich barsch an: „Sie haben sich vorgedrängelt, das Ende der Schlange ist dahinten, Sie glauben wohl, das hätte ich nicht gemerkt, aber nicht mit mir …“. Hat man Glück, dann wechselt der/die Übeltäter/in mit rotem Kopf ans Ende der Schlange. Hat man aber Pech, dann beginnt jetzt ein lautstarkes Streitgespräch, was immerhin die Wartezeit gut überbrückt. Zum Schluss hat man hoffentlich den ganzen Laden aufgemischt und eine lebhafte Diskussion gestartet.
Und wie ist das in England? Klar, eine Schlange gibt es natürlich auch dort an der Kasse. Die Briten haben das geordnete Anstehen schließlich erfunden und zur Vollendung geführt. Die Schlange heißt „queue“ und es soll Supermärkte geben, wo eine einzige queue für mehrere Kassen gebildet wird! Wenn sich nun jemand vordrängelt, was durchaus passiert, dann ist Schweigen im Laden! Einige schütteln den Kopf, manche ziehen die Augenbraue hoch, ganz wenige geben ein leises Stöhnen von sich. Mehr passiert nicht! Es wäre eben höchst unhöflich, den Drängler mit seiner Unverschämtheit zu konfrontieren. Also duldet man und leidet.
Da ich die Spielregeln nicht kannte, habe ich mich natürlich in norddeutscher Klarheit laut und deutlich bemerkbar gemacht. „Hey, this is a queue and the end is over there.“
Schlagartig hatte ich die Aufmerksamkeit von ca. 50 Augenpaaren. George starrte mich entsetzt an, „Keep quiet, pleeeeease“. An der Kasse werde ich abgefertigt wie ein Alien, das gerade eine Schleimspur hinter sich herzieht. Draußen im Auto erhalte ich dann Nachhilfe in Sachen (englische) Benimmregeln: Niemals öffentlich beschweren. Okay. (Heimlich bewunderte er mich für meinen Mut.)
George hält sich eisern an die Regeln. Würde man ihm im Restaurant das Filetsteak mit einer noch anhaftenden Bandscheibe servieren, -und als Mediziner sollte er es erkennen-, dann würde kein Wort über seine Lippen kommen. Der Knorpel würde zum Tellerrand wandern und schließlich vom Kellner wieder in die Küche zurückgebracht werden. Was übrigens NICHT unhöflich ist. Man darf, ja man muss, die Hälfte der Speisen liegen lassen. Besonders bei privaten Einladungen. Sonst würde der Gastgeber denken, man hätte tagelang gehungert, nur um jetzt mal ordentlich zuzulangen (to stuff oneself).
Ganz nach englischer Art koche ich oft verschiedene Gemüsesorten zu einer Mahlzeit. Erbsen alleine sehen zu langweilig aus. Es soll bunt sein, das Auge isst mit und deshalb bitte auch ein paar Karotten dazulegen. Zufällig erfuhr ich von George, dass er Brokkoli nicht ausstehen kann, ja noch nie in seinem Leben probiert hat. Aber mit Sicherheit hat er schon einige Zentner des grünen Winterkohls an den Tellerrand geschoben. Es würde ihm im Traum nicht einfallen, den angebotenen Brokkoli direkt zurückzuweisen.
Natürlich wurde auch mir in der Kinderstube die Welt erklärt. Da hieß es: Du musst den Teller aufessen. Ja, es wurde sogar mit einem Tag ohne Sonne gedroht, falls ich mich weigern sollte. Weiter wurde mir eingeschärft, dass ich immer laut und deutlich meine Meinung sagen muss. Mach’ den Mund auf, klare Ansage bitte. Und jetzt gilt das alles nicht mehr?
Ganz so generell kann man es nicht sagen. George beschwert sich zwar niemals in der Öffentlichkeit, aber sobald die Autotür geschlossen ist, geht die Nörgelei los. Dann höre ich Wörter, die ich im dictionary gar nicht wiederfinde. Ganz nebenbei beweist er mir damit seine große Zuneigung. Im Ernst, sobald ein Engländer anfängt, Sie derb zu beleidigen, können Sie sich sicher sein, dass er schwer verliebt ist. Solche Entgleisungen zeigt er nämlich ausschließlich seinen engsten Freunden.
Richtig übertreiben die Engländer es aber, wenn man ihnen übel mitspielt. Da renne ich im Straßengewühl jemanden fast um, und der sagt nicht etwas „Look out, you’re a 24-carat idiot!“, nein, der sagt doch glatt: „Sorry!“ zu mir. Was ich natürlich auch sage und so entschuldigen wir uns gleichzeitig gegenseitig. Dasselbe passiert mir im völlig überfüllten Pub, als ich ein half-pine Lager über eine Anzugjacke schütte. Ein freundliches „please“ schallt mir entgegen. „Gerne, jederzeit wieder“, denke ich mir im Stillen. Später wird mir erklärt, warum das Opfer, dass ich über den Haufen rannte, sich bei mir entschuldigt hat. Ihm war es peinlich, dass er mich in diese unangenehme Situation gebracht. Also dass er seinen Fuß versehentlich genau dort platzierte, wo ich ungebremst meinen unterbringen wollte. „Sorry, sorry, so sorry …“ Diese Worte werden Sie öfter als alles andere auf Londons Straßen hören. Und zwischendurch das wunderbare: „You’re welcome“.
Wie soll ich mich jemals zurechtfinden? Sprachlich sind die Hürden immer noch hoch und dann scheint manches auch noch je nach Land ganz gegensätzliche Bedeutung zu haben. Am besten, ich halte den Mund und trabe hinter George her. Der steuert ein Kino an und das ist jetzt mein Glücksfall. Hier läuft mein Lieblingsheld ‘Shaun das Schaf’ in Spielfilmlänge! Ich glaube, Ostern kommt der Film auch in die deutschen Kinos. Unbedingt hingehen, ich habe 90 Minuten lang Tränen gelacht. Und das Beste war, Shaun, seine Herde, Hund ‚Bitzer‘ und der Bauer reden während der ganzen Zeit kein einziges Wort. Außer einem „Baah“ bringt Shaun nichts hervor, braucht er auch nicht. Ansonsten hört man von der Rasselbande Schmatzen, Quieken, Lachen und Grummeln. Es ist ein wenig wie bei uns zu Hause. Herrlich!
