Es ist kalt geworden. Die Sonne hat nicht mehr die Kraft, den Nebel aufzulösen. Den ganzen Tag bleibt es diesig und feucht. Das diffuse Licht wirft kaum sichtbare Schatten. Und doch ist es ein perfekter Tag für eine Fototour. Am besten auf dem Ohlsdorfer Friedhof, denn wir haben den 11. November und das ist ein besonderes Datum, das weit zurück in die Vergangenheit zeigt. Also beginne ich meine Tour bei den Gräbern der britischen Soldaten, die im 1. Weltkrieg gefallen sind. Das ist thematisch passend, denn genau heute fand der Waffenstillstand statt und er hielt bis zu den Friedensverhandlungen. Das ist nun auch schon über einhundert Jahre her und das ist gut so. Eine Erinnerung an die damalige Zeit hat sich aber wiederholt und drang in unser aller Bewusstsein: die Spanische Grippe, die fatale Ähnlichkeiten zum Coronavirus aufweist. Damals, 1818 breitete sich die Grippe im Frühjahr aus, im Sommer klangen die Infektionen ab und der Herbst brachte dann die zweite Welle. Die war viel tödlicher, viel intensiver und infizierte viel mehr junge als alte Menschen. Bisher folgt Corona dem Drehbuch und dann wird es auch noch eine Weile dauern, bis wir uns sicher fühlen können. Letztlich scheint alles im Kreis zu laufen, man muss den Abstand nur groß genug wählen, dann erkennt man es. Und doch ist jede Runde eine neue Herausforderung, denn man startet nicht dort, wo die Vorgänger anfingen. Da sind Unterschiede auszumachen und das ist vielleicht sogar die Essenz der Entwicklung. Genug philosophiert, jetzt wird es Zeit die Kamera aus der Tasche zu holen, ich bin nämlich an meinem eigentlichen Ziel angekommen. Ich will das Grabmal-Freilichtmuseum im Heckengarten besuchen. Das ist genau der richtige Ort, wenn eine Pandemie zum Abstandhalten zwingt. Hier werde ich auf niemanden treffen, und an einem so ungemütlichen Tag wie heute, ist das sogar eine hundertprozentig sichere Vorhersage.

 

Der etwas sperrige Name ist inhaltlich durchaus zutreffend: ‚Grabmal Freilichtmuseum im Heckengarten‘. Man findet es zwischen dem Ende des T-Teichs und des Bramfelder Sees. Die Hecke ist kurz geschnitten, so dass man die vielen Grabsteine leicht erkennen kann.

 

Ich war schon einmal hier und hatte auch damals darüber geschrieben. Deshalb die (2) im Titel. Diesmal habe ich mir mehr Zeit genommen und gehe die Sache systematisch an. Erst einmal einen Blick auf die Info-Tafel werfen, die gleich am Eingang steht. Dort werden zehn markante Steine vorgestellt, mit ein paar Daten. Prima, wenn ich mir die merken kann, dann könnte der Besuch eine Art Schnitzeljagd werden. Man erklärt auch die Herkunft der Grabsteine, sie sind von den alten Friedhöfen vor dem Dammtor, wo man bis Anfang des 20. Jahrhunderts Bestattungen durchführte. Erst in den 30-er Jahren wurden die Friedhöfe eingeebnet. Inzwischen hatten die Nationalsozialisten die Macht inne und brauchten Flächen für ihre Aufmärsche. Da kamen die zentral gelegenen Friedhöfe gerade recht; im Gegenzug versetzte man einen Teil der Steine nach Ohlsdorf. Natürlich wählte man die künstlerisch bedeutsamsten aus, wobei ich auch politische Kriterien vermute, und die kann man noch heute im Heckengartenmuseum besichtigen (nicht die Kriterien, sondern die Steine). Die Info-Tafel verschweigt die Aufmarschplätze und nennt nur Planten & Blomen als Grund für die Verlegung der Steine. Das ist nicht falsch, denn der Park war damals ebenfalls in Planung.

Um den Text auf dem alten Grabstein zu lesen, nutze ich einen Trick. Oftmals sind die Gravuren wegen der starken Verwitterung kaum zu erkennen. Kein Wunder, sie stehen ungeschützt im Freien. Wenn ich aber das Foto in negativen Farben entwickel, dann bekomme ich mehr Kontrast und kann die Buchstaben besser erkennen. Auf einem der Steine lese ich dann diese Worte: ‚Henry Tute, son of William and Elizabeth Tute of Leeds Dyer, who died in this city on the 19th of December 1814 in the 14th year of his age. – Also William Henry Tute, son of the above Henry & Elizabeth Tute of this city, who died on the 9th day of February 1840. Aged 3 years and 5 months.‘ Das ist also die traurige Geschichte zweier Söhne, die jung starben. Sie gehörten allerdings nicht der gleichen Generation an. Man müsste mal recherchieren, warum die Familie Tute in Hamburg lebte. Vielleicht waren sie englische Kaufleute, die im Hansehandel tätig waren?

 

Es war eine gute Idee, sich nur auf das Freilichtmuseum zu konzentrieren. Dort gibt es genug zu entdecken, um sich einige Stunden zu beschäftigen. Ich fand noch viele interessante Steine. Einige Namen habe ich recherchiert, unter anderem den von Matthias Ferdinand Rachals. Er gehörte einer Klavierbauerfamilie an und das wurde bildlich in der Figur, die das Grabmal schmückt, dargestellt. Der Künstler, der die Statue geschaffen hat, war Engelbert Peiffer. Sein eigenes Grab, das auch in Ohlsdorf war, ist inzwischen nicht mehr vorhanden. Aber seine Figur hat im Freilichtmuseum die Jahre überstanden und ist dort gut aufgehoben. Zum Glück hat Peiffer seinen Namen am Sockel eingeritzt, so konnte ich ihn identifizieren.

Die klamme, kalte Luft kriecht mir unter die Jacke und lässt mich frösteln. Trotz Handschuhe sind die Finger klamm. Also wird es Zeit, die Kamera einzupacken und nach Hause zu fahren. Ich gehe ein Stück weit querfeldein, ahne die grobe Richtung zum geparkten Auto, folge aber meinem Bauchgefühl. Und da treffe ich dann doch noch auf eine lebende Seele. Es ist ein großer Greifvogel, der ganz in der Nähe auf einem Grabstein sitzt. Ich bin so überrascht, denke erst, dass auch er aus Marmor wäre. Aber dann öffnet er die Flügel und stößt sich mühelos in die Luft. Ein kurzer Flug in einen nahen Baum reicht ihm, um die nötige Distanz zu mir zu wahren. Ich versuche gar nicht näher heranzupirschen, es wäre zwecklos. Ich weiß aber, als ich meinen Weg fortsetze, dass er mich fest im Blick hat und das fühlte sich gut an.