Wann immer ich in diesen Tagen mit George telefoniere, stellt er irgendwann die ehrlich besorgte Frage, ob mich auch nicht frieren würde?! Er fürchtet ernsthaft, ich könnte zähneklappernd in meiner Wohnung auf den Frühling warten. Ich denke, es wird höchste Zeit ihn einmal nach Hamburg einzuladen, damit er mein Zuhause kennenlernt, wo ich ihn dann, -gut eingeheizt-, mit den Finessen der deutschen Bauingenieurskunst vertraut machen werde.

Mir scheint da ein „gap“ erkennbar, -und diesmal meine ich nicht den zwischen U-Bahnzug und Bahnsteigkante-, sondern die Lücke zwischen seiner und meiner Erfahrungswelt. Das dürfte der durchaus ernste Hintergrund seiner Besorgnis sein. Ein Zeitungsbericht könnte erstes Licht auf den unterschiedlichen Umgang mit moderaten Wintertemperaturen werfen. In dem Artikel war zu lesen, dass im Winter 2003, in einer einzigen (!) Woche, in England, rund 2.500 Menschen an Kälte und deren Folgen starben! Davon mehr als die Hälfte in London! Insgesamt geht man jährlich von 30 bis 50.000 ‘Kältetoten’ pro Winter aus. Prozentual sind das mehr als in Russland!

Heute, zwölf Jahre später, hat sich nicht viel an der Situation geändert. Was sind die Gründe? Davon will ich berichten, denn ich durfte es Anfang Januar hautnah im Selbstversuch erfahren. Und zwar im beschaulichen Themsetal, in der Nähe von Oxford. Georges best friend feierte einen runden Geburtstag, und wir waren eingeladen. Weil der Abend sicher nicht alkoholfrei sein würde, hatten wir uns gleich in einem der pittoresk anmutenden Landgasthäuser für die Nacht eingemietet. Diese wunderschönen alten Fachwerkhäuser werden oft sehr proper renoviert, aber leider nicht wirklich von Grund auf restauriert. Es fehlt u.a. an Wärme-Isolierung. Und zwar gewaltig. Im Winter kommt die Kälte durch alle Ritzen gekrochen. Die Fenster sind gerne auch mal von der Innenseite mit Eiskristallen verziert. Doppelverglasung ist die absolute Ausnahme. Und nicht selten wird das Haus nur im Erdgeschoss von einem Kamin befeuert. Da erlebt man den Winter intensiver als bei uns.

Eingeschränkt gilt das auch für viele Häuser in London. Dort sind allerdings die offenen Feuerstellen längst verboten. Mit den Kaminen verschwand auch der Nebel in London’s Straßen. – Man kann es kaum glauben, aber ich habe es selbst gesehen. Viele der Häuser haben nur im Wohnzimmer einen Elektro-Ofen*), das Obergeschoss, wo geschlafen wird, ist ohne Heizung. (Übrigens noch ein Grund, den Abend im Pub zu verbringen.)

*) Strom oder Gas läuft manchmal noch über Zähler, die einen Münzeinwurf haben. Sobald man nicht nachsteckt, ist die Leitung dicht. Tragischerweise passiert das nicht selten bei alten, bedürftigen Menschen. Außerdem ist die E-Heizung kostenintensiv.

Aber der Engländer ist leidensfähig, er passt sich gerne an und entwickelt höchst effiziente Strategien. Die Lösungen seiner Probleme sind immer originell, oft genial, auch wenn wir sie gerne vorschnell als spleenig bezeichnen. Und so weiß der Engländer natürlich auch, wie man bei null Grad im Schlafzimmer überlebt. Und das durfte ich dann im idyllischen Themsetal auch mal ausprobieren.

Als die Geburtstagsfeier sich ihrem Ende näherte, waren wir recht froh, nicht nach London zurück zu müssen. Die Nacht würden wir wunderbar im Hotel schlafen können; dachte ich. Aber kaum war ich ins Zimmer getreten, glaubte ich, mich in einem Gefrierschrank zu bewegen. Hier war es nicht wärmer als draußen, also so ungefähr plus 2 Grad. Die Wände eiskalt, nirgends eine Heizung. Beim Aufwachen, am nächsten Morgen, würden hübsche Eisblumen an den Scheiben glitzern; aber das wusste ich jetzt, um Mitternacht, noch nicht.

Eine erste Überraschung fand ich am Bettende: zwei Wärmflaschen gluckerten dort unter der Decke. Immerhin. George bemerkte meine Verwirrung und fand, es würde jetzt Zeit werden, mich über englische Bettgewohnheiten aufzuklären. Erste Regel: niemals das Fenster öffnen, dafür aber die Zimmertür offen lassen, damit sich vielleicht doch noch ein letztes Wärmemolekül aus dem Living-Room nach oben verirren kann. Das war allerdings im Hotel keine praktikable Option. Sofort einleuchtend fand ich Regel Nr. 2: Socken anbehalten. Zusätzlich kommt Barney an Bord. Er verbringt die Nacht ebenfalls am Fußende. Hoffentlich beißt er nicht in die Wärmflasche. Die eigentlich notwendige Wärme für die lange Nacht muß man aber selbst erzeugen. Dabei hilft das englische Stockmaß für (Ehe-!) Betten: 190 x 135 cm! Also ich bin 1,74 m groß und George misst 5 feet and 10 inches. Mehr hätten es auch nicht sein dürfen. Und 67,5 cm pro Nase bzw. Rücken oder was auch immer, sind auch nicht gerade üppig. – Nun, wir kannten uns erst kurz und nahmen es sportlich. Die Hürde meisterten wir spielend.

Hier muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass in diese netten, kleinen Betten selbstverständlich nur EINE Matratze und EINE Decke gehören. Alles andere ist dem Engländer fremd. Besucherritzen machen dem Briten Angst. Ich weiß gar nicht warum, aber ich habe mal die Geburtenrate gegoogelt: Da liegt GB mit 12,27 Geburten (pro Jahr auf 1.000 Geburten bezogen) deutlich vor DE mit 8,33. Aktuell ist die Zahl sogar noch gestiegen. Man verzeichnete im letzten Jahr einen Babyboom in England. War es ein kaltes Jahr?

Als ich am nächsten Morgen im idyllischen, aber saukalten Themsetal erwachte, war es unter der Decke, wider Erwarten, noch mollig warm. Aber ich bin mir sicher, dass meine Atemluft kondensierte! George war schon aufgestanden und ich überlegte, wie ich den Kälteschock mildern könnte, dem ich mich gleich unweigerlich aussetzen musste. Für die eine Nacht hatte ich natürlich keinen Bademantel dabei. Also raus aus den Federn, mit einem Schritt zur Reisetasche, in Windeseile den dicken Pullover, den woolly, rausgefummelt und übergezogen. Immerhin etwas Wärme, um ins Bad zu gehen. Dort setzte sich die Katastrophe nahtlos fort. Keine Heizung! Übrigens, auch keine Schalter oder Steckdosen, die sind gesetzlich in allen englischen Badezimmern verboten?!? Zwei Wasserhähne, heiß + kalt, kamen direkt aus der Wand, leider einen halben Meter voneinander getrennt. Von Mischbatterien hat man auf der Insel noch nichts gehört. Man muss sich entscheiden. Entweder eiskalt oder kochend heiß. Mischen geht nicht, weil eben der halbe Meter zwischen den beiden Hähnen liegt. Hier war Improvisation gefragt.

Ich behielt meinen Pullover während des Waschens einfach an. Kurz mit dem Frotteelappen die Achselhöhlen berührt und dann mit Deo und Parfüm das Finish aufgelegt. Das musste reichen. Zum Glück war es in der guten Stube warm. Das Frühstück war herzhaft und mit dem heißen Tee kamen so langsam meine Lebenssäfte wieder in Fluss.

Auf der Heimfahrt drehte ich die Heizung auf und war dankbar wie ein ausgesetzter Welpe für die Sitzheizung. Zum Glück vertraut George im Hinblick auf sein Auto der deutschen Wertarbeit, da ging Wärme mäßig nichts mehr schief. Zu Hause in London angekommen, ließ ich mir sofort ein Bad ein. Bevor ich in die Wärme plumpste, notierte ich mir noch schnell in meinen Reiseplaner: „Flanell-Pyjama einpacken“.

Seit dieser „romantischen“ Nacht, die eher einem survival Training entsprach, denke ich über deutsche Regelungen wie das Energieeinsparungsgesetz und die Wärmeschutzverordnung ganz anders. Und das sollte ich George unbedingt demnächst mal hier in Hamburg praxisnah erläutern. Dann kann er seine long-standing bedroom-experience *) ausbauen und Barney kann sich mal alleine im Körbchen einrollen.

*) um Missverständnissen, wie sie mir ständig unterlaufen, vorzubeugen, hier die Übersetzung für long-standing experience: „langjährige Erfahrung“. Aber das haben Sie sich natürlich gleich gedacht 😉