Seit ein paar Wochen muss ich mir keinen Wecker stellen, um früh aufzuwachen. Pünktlich um sieben werden die Motoren angeworfen und dann geht ein sanftes Vibrieren durchs Haus. Die Straße ist jetzt 60 Jahre alt und deshalb wird es Zeit die Rohre, Kabel und Leitungen auszutauschen. Der Stromversorger hat den Anfang gemacht und einen mannstiefen Graben direkt vor meinem Fenster gegraben. Das geht nicht geräuschlos, aber die Leute arbeiten schnell und professionell. Eigentlich bin ich über die Abwechslung gar nicht unzufrieden. Nach einem langweiligen Corona-Jahr tut sich endlich etwas. Das Leben kehrt zurück. Gestern rückten dann neue Fahrzeuge an, beladen mit Kettensägen und großen Schreddern. Sie hatten einen anderen Auftrag als die Leute vom Tiefbau; sie sollten die uralten Eichen ausdünnen. Alle Äste, die eventuell abbrechen könnten, wurden vorsichtshalber abgesägt. Das Chaos war perfekt. Vorne Bauarbeiten, hinten Gartenpflege. Das Haus war zur Baustelle geworden. Trotzdem freute ich mich über die Aktion, denn der nächste Sturm wird kommen und solange die Bäume noch voller Laub hängen, ist die Gefahr groß. Eine der Eichen fiel vor ein paar Jahren bei einer kräftigen Windböe einfach um. Zum Glück wurde nur ein parkendes Auto zertrümmert.

Der Herbst ist da, die ersten Stürme werden erwartet. Man mäht noch einmal den Rasen und danach kramen die Nachbarn ihre Laubbläser aus der Garage. Die nächsten Wochenenden kann man dem monotonen Geräusch ganztägig lauschen. So ähnlich muss es ein, wenn sich der Tinnitus ins Ohr einnistet. Wenn einer der Bläser endlich aufgibt, fängt garantiert sein Nachbar an. Zum Verrücktwerden.
Jetzt rücken auch bald die Profis an. Sie kommen in den nahen Wald, um Bäume zu fällen. Das kann nur im Winterhalbjahr gemacht werden; es gibt strenge Vorschriften. Wenn sie damit durch sind, dann wird es Zeit für die Arbeitspferde. Sie leben auf dem Bauernhof im nahegelegenen Museumsdorf. Die kräftigen Tiere ziehen dann die gefällten Baumstämme aus dem dichten Unterholz. Das machen sie umweltfreundlicher und schonender als jede Maschine. Es ist eine schwere Arbeit und die Pferde wurden dafür lange trainiert. Sie dürfen auf keinen Fall ausbrechen, wenn die schwere Last am Geschirr hängt. Alles eine Frage des Vertrauens und der Nervenstärke, aber die Kaltblüter sind dafür die ideale Wahl.
Langsam aber unaufhaltsam bereiten sich die Bäume auf den Winter vor. Auch ihnen droht der Kältetot, denn die Blätter, die Zweige und auch der Stamm bestehen aus viel Wasser. Wenn das gefriert, dann platzen die Adern und der Baum wird sterben. Um das Unheil zu vermeiden, wendet Mutter Natur eine geniale Strategie an. Die fest verankerten Bäume können sich ja schlecht an einen geschützten Ort zurückziehen und einen Pelz lassen sie sich auch nicht wachsen. Stattdessen stoppen sie die Wasserversorgung. Im Sommer pumpen sie unzählige Liter Wasser aus dem Boden und drücken es bis in die höchsten Zweige. Als Pumpe dienen ihre Wurzeln. Im Frühjahr, sobald der sich der Frost zurückzieht, kann man ihr Erwachen sogar hören. Legen Sie dann mal ihr Ohr an einen Baumstamm. Sie werden ein stetiges, feines Rauschen hören. Das ist das Wasser, das der Baum in seine Krone pumpt und damit den Blätterkreislauf neu beginnen lässt.
Mein kleiner Spaziergang am späten Vormittag hat gutgetan. Die Sonne ist noch kräftig und wärmt. Ich habe ein paar Fotos gemacht. Es sind die Herbstfarben, die mich dazu anregten. Noch sind die meisten Blätter saftig und grün, vielleicht weil es dieses Jahr keine Sommerhitze gab. Die Hundstage fanden nicht statt und ich habe sie auch nicht vermisst.
Als ich wieder Zuhause bin, ist es Zeit für ein Mittagessen. Die Baumfäller haben auch Hunger und sitzen auf dem Rasen. Ich kann sie von der Küche aus sehen. Die haben sich zu einem Picknick zusammengefunden und mir gefällt, wie sie dort in gemütlicher Runde sitzen. Es erinnert mich spontan an mein geliebtes London, wo man sich mittags gerne einen Platz auf dem Rasen im Park sucht. Auf der anderen Seite meiner Wohnung sehe ich die Straßenbauarbeiter. Auch sie machen Mittagspause und nutzen dafür ihren Kleintransporter, in dem sie alle Platz finden. Sie haben ihre Zeitungen aufgeschlagen und trinken dazu den Kaffee, den sie in einer Thermosflasche warmhalten.
Die Mittagspause geht zu Ende. Für mich, für die Tiefbauarbeiter und für die Baumfäller. Die PS-starken Motoren der Kipplader werden gestartet und die Gärtner bauen den Schredder auf. Armdicke Äste können durch die rotierenden Messer gejagt werden. Die Maschine zerkleinert alles. In Sekundenschnelle wird aus einem knorrigen Eichenast feines Holzmehl. Ein angenehmer Geruch wird bei dem Prozess freigesetzt. Ich will auch noch etwas tun, vielleicht die Bilder vom Vormittag entwickeln. Vorher aber erst noch eine Tasse Kaffee kochen. Dabei höre ich den Gärtner zu, die vor dem Küchenfenster arbeiten. Sie rufen sich etwas zu, tauschen ihre Meinungen aus, es wird auch kurz laut und dann muss ich lächeln. Da schnappe ich nämlich ein paar Worte auf, die gute Erinnerungen in mir auslösen. Die Männer sprechen Englisch. Sie sind von der Insel. Ein Blick auf ihren Lkw bestätigt es, dort ist ein britischer Name zu lesen. Kein Wunder, dass sie ihre Mittagspause ganz anders als die Kollegen vom Tiefbau arrangiert haben. Es gibt Dinge, die können wir nicht ablegen. Wir haben sie von früh auf gelernt und sie sind Teil unserer Identität. Das ist gut so und ich freue mich immer dann ganz besonders, wenn mich jemand einlädt an einem solchen Ritual teilzunehmen. Natürlich haben wir unsere eigenen Gewohnheiten entwickelt, aber wir nehmen sie nur noch selten bewusst wahr. Manchmal tut es gut, sich daran zu erinnern.
Auf meinem Spaziergang fiel mir auf, dass die Gärten nicht mehr offen waren. Die Leute haben ihre Pforten geschlossen, denn so langsam wird alles zusammengepackt und winterfest gemacht. Mir bleibt nur ein Blick durch die Gitter. Natürlich diskret.